Seit Beginn des Jahres 2023 hat sich die gerichtliche Praxis in Belarus bezüglich der Wehrdienstverweigerung verschärft, was sich in einer groß angelegten Kampagne der Behörden gegen Kriegsdienstverweigerer und Wehrdienstverweigerer widerspiegelt. Artikel 435 des Strafgesetzbuches der Republik Belarus ist zu einem wichtigen Instrument geworden, um Bürger zur Verantwortung zu ziehen. Die belarussischen Behörden nutzen diese Verfahren nicht nur als Strafmaßnahme, sondern auch als ein Werkzeug der Einschüchterung, das sich gegen die Jugend und die Gesellschaft insgesamt richtet.
Diese Überwachung untersucht Beispiele von Gerichtsverfahren, identifiziert wichtige Trends und Probleme und gibt Empfehlungen für internationale und nationale Menschenrechtsorganisationen.
Diese analytische Übersicht wurde im Rahmen der belarussischen Kampagne „Nein bedeutet Nein“ erstellt, deren Ziel es ist, jede Beteiligung der belarussischen Armee am Krieg in der Ukraine zu verhindern. Diese Kampagne ist Teil der breiteren globalen Initiative „ObjectWarCampaign“, die von einer Koalition von Pazifisten- und Friedensorganisationen weltweit durchgeführt wird.
Diese analytische Übersicht wurde mit der Unterstützung der Bertha-von-Suttner-Stiftung der DFG-VK erstellt.
Diese analytische Übersicht wurde vom Internationalen Zentrum für Zivilinitiativen „Unser Haus“ erstellt, einer belarussischen Menschenrechts- und Friedensorganisation, die seit Dezember 2005 in Belarus tätig ist. Die Organisation ist seit Januar 2014 in Litauen registriert und befindet sich derzeit im Exil in Litauen.
Website: news.house
Kontext und Relevanz des Themas
Die Wehrdienstverweigerung in Belarus ist inzwischen Gegenstand strenger staatlicher Kontrolle, wobei Gerichtsverfahren eine symbolische Bedeutung erlangt haben. Die Justiz versucht, jede Form des Widerstands gegen den Wehrdienst, einschließlich der Kriegsdienstverweigerung, zu unterdrücken. Im Jahr 2023 wurden 266 Personen wegen Wehrdienstverweigerung verurteilt. Diese Zahl spiegelt sowohl das Ausmaß des Problems als auch die Intensivierung der Repressionen gegen Bürger wider, die sich weigern, in der Armee zu dienen.
Die staatlichen Stellen nutzen öffentlichkeitswirksame Gerichtsverfahren aktiv, die nicht nur als Repressionsinstrument dienen, sondern auch als Form der Propaganda zur Erhöhung der Zahl der Wehrpflichtigen. Mehrere Trends sind in diesen Verfahren erkennbar:
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Organisation öffentlicher Anhörungen: Gerichtsverfahren finden häufig in Militärregistrierungsbüros oder Bildungseinrichtungen im Beisein von Wehrpflichtigen, deren Eltern und Vertretern der Öffentlichkeit statt. Dies verstärkt die Einschüchterungswirkung.
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Schwere der Strafen: Die Strafen reichen von Geldbußen bis hin zu Haftstrafen, wobei die Behörden nicht zögern, Präzedenzfälle zu schaffen und das Gesetz weiter anzuwenden.
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Kooperation zwischen dem belarussischen Regime und Russland: Die belarussischen Behörden nutzen aktiv zwischenstaatliche Mechanismen zur Auslieferung von Wehrdienstverweigerern, wodurch die Flucht nach Russland eine unsichere Option wird.
Hauptmechanismen des Drucks in Gerichtsverfahren gegen Kriegsdienstverweigerer
1. Öffentliche Prozesse als Einschüchterungsinstrument für belarussische Kriegsdienstverweigerer
Die belarussischen Behörden nutzen aktiv öffentliche Anhörungen, die in Schulen, Militärmeldestellen oder anderen öffentlichen Orten organisiert werden, um eine Atmosphäre der Angst zu schaffen. Die Teilnahme an solchen Anhörungen wird oft für andere Wehrpflichtige und deren Eltern zur Pflicht gemacht und dient als Werkzeug, um potenzielle Kriegsdienstverweigerer einzuschüchtern.
Beispielhafte Fälle:
• Rechitsa: Ein öffentlicher Prozess
Im April 2023 fand eine Feldsitzung des Gerichts in Rechitsa für einen Bewohner von Vasilyevichi (als „K.“ bezeichnet) statt, der beschuldigt wurde, der Wehrpflicht entzogen zu sein. Die Anhörung war öffentlich, und Schulkindern sowie deren Eltern wurde zur „disziplinarischen Wirkung“ eingeladen.
Der Angeklagte, K., hatte zuvor in Moskau gelebt und gearbeitet, wurde jedoch festgenommen und nach Belarus ausgeliefert. Das Urteil war eine dreimonatige Haftstrafe, die K. bereits in der Untersuchungshaft verbüßt hatte.
Dieser Ansatz zeigte die Bereitschaft der Behörden, Angeklagte öffentlich zu demütigen, um potenzielle Kriegsdienstverweigerer einzuschüchtern. Der Fall veranschaulicht, wie solche Prozesse verwendet werden, um Angst vor der Wehrdienstverweigerung zu schüren.
• Brest: Eine Gerichtsverhandlung eines 19-jährigen Wehrpflichtigen fand direkt im Militärmeldestellenbüro statt. Andere Wehrpflichtige waren anwesend, was die Einschüchterung und den Terror für belarussische Männer verstärkte.
2. Kooperation zwischen dem belarussischen Regime und Russland
Belarus nutzt aktiv Vereinbarungen mit Russland zur Suche und Auslieferung von Wehrdienstverweigerern. Dies macht es für Kriegsdienstverweigerer unmöglich, das Land sicher zu verlassen, insbesondere für diejenigen, die auf Zuflucht in Russland hoffen. Russland liefert Kriegsdienstverweigerer nach Belarus zurück, wo sie Folter, erniedrigende Behandlung und Gefängnisstrafen erwarten.
Beispielhafte Fälle:
• Stoliner Bezirk: Ein junger Mann, der aus Russland zurückkehrte, wurde festgenommen und zu einer Geldstrafe von 70 Grundeinheiten (etwa 750 Euro) verurteilt. Das Ereignis war von einer öffentlichen Diskussion über seinen Fall im Militärmeldestellenbüro begleitet, bei der auch andere Wehrpflichtige teilnahmen.
3. Schwere der Strafen für belarussische Kriegsdienstverweigerer
Die belarussischen Gerichte verhängen zunehmend harte Strafen, einschließlich tatsächlicher Gefängnisstrafen und hoher Geldbußen. Die Strafen für belarussische Kriegsdienstverweigerer werden immer strenger.
Beispielhafte Fälle:
• Lida: Erweiterung der Altersgrenze
Im Juli 2023 verurteilte das Lidaer Bezirksgericht einen 28-jährigen Mann zu anderthalb Jahren Gefängnis wegen der Verweigerung des Wehrdienstes. Dieser Fall war einzigartig, da die Altersgrenze für die Wehrpflicht 27 Jahre beträgt. Der Prozess wurde zu einem Präzedenzfall und zeigte die Bereitschaft der Behörden, das Gesetz rückwirkend anzuwenden.
• Grodno: Der Fall von Yegor Kurzin
Yegor Kurzin, ein 21-jähriger Student der BSGU, wurde bei dem Versuch festgenommen, die litauische Grenze zu überqueren. Das Gericht verurteilte ihn zu drei Jahren Haft und einer Geldstrafe von 100 Grundeinheiten. Richter Viktor Senko verurteilte auch seine Komplizen: die 19-jährige Anita Bakunovich zu dreieinhalb Jahren Haft und Nikolai Kuleshov zu fünf Jahren. Der Fall war von Propagandafilmen begleitet, die den politischen Kontext der Verfolgung verdeutlichten. Yegor wurde als politischer Gefangener anerkannt.
• Chashniki: Wehrdienstverweigerung und Strafaussetzung
Ein weiterer Fall ereignete sich im Chashniki-Bezirk, wo „Bürger B.“ eine Ladung erhielt, aber nicht zum Militärmeldestellenbüro erschien. Nach seiner Festnahme wurde ihm eine einjährige Bewährungsstrafe mit der Verpflichtung zur Zahlung von 1.120 belarussischen Rubeln auferlegt.
• Dzerzhinsk: Festnahme
Im Mai 2023 wurde ein Bewohner von Dzerzhinsk zu einem Monat Haft verurteilt, weil er den Wehrdienst verweigert hatte. Trotz medizinischer Kontraindikationen für den Wehrdienst entschied das Gericht zugunsten der Anklage, da es keine medizinischen Kontraindikationen gab.
Dieser Fall zeigt den Versuch der Behörden, verfahrenstechnische Formalitäten in solchen Fällen zu minimieren.
4. Einsatz von Propaganda
Gerichtsverfahren werden oft von Propagandakampagnen begleitet. Zum Beispiel wurde der Fall von Yegor Kurzin von der Erstellung von Propagandafilmen begleitet, in denen die Angeklagten als Verräter und Feinde des Staates dargestellt wurden.
Soziale Folgen der Gerichtsverfahren
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Zunehmendes Misstrauen in das Rechtssystem
Die Schwere und Ungerechtigkeit der Strafen verstärken das öffentliche Misstrauen in das Rechtssystem. Junge Menschen betrachten den Wehrdienst als eine Zwangsmaßnahme, die ihre Rechte verletzt. -
Emigration als Fluchtmöglichkeit
Für viele Kriegsdienstverweigerer wird die Emigration zur einzigen Möglichkeit, eine Haftstrafe für ihre Überzeugungen zu vermeiden. Allerdings endet die Rückkehr ins Land oft in einer Festnahme, wie die Fälle aus Stolin und Grodno zeigen. -
Psychologischer Druck auf die Jugend
Öffentliche Gerichtsverfahren und das Fehlen von Verteidigungsmöglichkeiten schaffen bei jungen Menschen ein Gefühl der Hilflosigkeit. Dies führt zu einer früheren Flucht, vom Verweigern des Empfangs von Vorladungen bis hin zur Flucht ins Ausland. -
Schlussfolgerungen
• Gerichtsverfahren in Fällen der Wehrdienstverweigerung in Belarus sind zu repressiven Maßnahmen geworden.
• Die Behörden nutzen weit verbreitet öffentliche Gerichtsverfahren, um potenzielle Wehrdienstverweigerer einzuschüchtern und zu erschrecken, begleitet von Propagandamaterialien.
• Die Auslieferung von Wehrdienstverweigerern aus Belarus aus Russland und Litauen unterstreicht die Unsicherheit in der Region für Flucht.
Empfehlungen
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Erweiterung der internationalen Überwachung
Es ist notwendig, die Dokumentation von Fällen der Verfolgung von Wehrdienstverweigerern zu intensivieren, einschließlich ihrer rechtlichen Unterstützung auf internationaler Ebene. -
Unterstützung von Menschenrechtsinitiativen auf internationaler Ebene
Die Schaffung von Aufklärungskampagnen über das Recht auf Wehrdienstverweigerung wird helfen, die Zahl der Verfolgungen zu verringern. Internationale Organisationen müssen Druck auf die belarussischen Behörden ausüben, um die Rechte der Wehrdienstverweigerer zu schützen. -
Überwachung von Gerichtsverfahren
Die Überwachung von Gerichtsverfahren gegen belarussische Wehrdienstverweigerer kann auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machen. Es ist notwendig, die Dokumentation der rechtlichen Verfolgung zu erweitern, einschließlich der Sammlung von Zeugenaussagen von Opfern. Die Verbreitung von Informationen über Gerichtsverfahren kann den Einschüchterungseffekt verringern und die Opfer des repressiven Systems unterstützen. -
Aufklärung
Die belarussische Gesellschaft muss über ihre Rechte informiert werden, einschließlich des Rechts, aus Gewissensgründen den Wehrdienst zu verweigern.
Die belarussische Rechtspraxis in Fällen der Wehrdienstverweigerung spiegelt systematische Menschenrechtsverletzungen wider. Sie erfordert sofortige Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft.
Gerichtsverfahren gegen Verweigerer und Wehrdienstverweigerer in Belarus sind ein Element der staatlichen Repression. Diese Fälle zeigen die Härte des Systems, seine Bereitschaft, jede Form von Dissens zu unterdrücken, und die Nutzung der Gerichte als Propagandainstrument.
Um die Situation zu ändern, sind internationaler Druck, Unterstützung für Wehrdienstverweigerer und eine fortlaufende Überwachung der Gerichtsverfahren erforderlich. Belarus braucht Reformen zum Schutz der Rechte der Bürger sowie aktive Arbeit von Menschenrechtsorganisationen, um repressiven Praktiken entgegenzuwirken.