Mein Name ist Olga Karatch. Seit fast 20 Jahren widme ich mein Leben der Friedensarbeit. Als Feministin, Pädagogin und Menschenrechtsverteidigerin leite ich die Menschenrechtsorganisation „Unser Haus“, die derzeit im Exil in Litauen tätig ist. Wie viele Belarussen hat mich der Krieg in der Ukraine tief erschüttert. Der Schock dieses Konflikts hat mich – wie auch viele andere – dazu gezwungen, mich schmerzhaften Wahrheiten zu stellen und Illusionen über unsere Welt zu hinterfragen. Für die Frage, ob wir jemals den Weg zum Frieden finden werden, ist es entscheidend, welche Lehren wir daraus ziehen.

Wie ich zu schockierenden Erkenntnissen kam

Vor dem Krieg hatte ich – wie viele andere – naive, aber beruhigende Vorstellungen in Bezug auf die Natur des Menschen, die Lösung von Konflikten und die Rolle von Kriegen in unserer Gesellschaft. Der Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Russland und der Ukraine hat diese Überzeugungen erschüttert und so unerwartete wie unbequeme Wahrheiten ans Licht gebracht.

Überraschende Erkenntnis Nr. 1: Der Glaube an Waffen als göttliche Lösungen

Von Beginn des Krieges an beobachte ich einen besorgniserregenden Trend: Die Menschen begannen, Waffen blind zu vertrauen, als seien sie die ultimativen Mittel zur Konfliktlösung – fast wie ein Glaube an eine Gottheit. Im Laufe der Zeit dehnte sich dieser Glaube auf Atomwaffen aus, die als ultimative „Lösung“ für globale Probleme angesehen werden. Dass nukleare Bewaffnung – wenn auch „nur“ zur Abschreckung – so schnell als etwas Normales angesehen wurde, ist zutiefst beunruhigend.

Überraschende Erkenntnis Nr. 2: Heldentum definiert sich über Gewalt

In unserer Region definiert sich Heldentum weiterhin über Gewalt – sei es durch das Töten anderer oder das Opfern des eigenen Lebens. Dass es keine friedlichen Modelle für Heldentum gibt, offenbart ein kulturelles Versagen: Wenn Alternativen überhaupt gar nicht denkbar sind, so bleiben Gesellschaften in Zyklen von Aggression und Märtyrertum gefangen.

Überraschende Erkenntnis Nr. 3: Militaristische Propaganda ist verführerisch

Militaristische Propaganda lebt von ihrer Einfachheit. Sie bietet einfache, schlagwortartige Antworten auf komplexe Probleme – die Fähigkeit zum kritischen Denken ist da kaum nötig. Im Gegensatz dazu ist der Einsatz für Frieden eine weitaus schwierigere Aufgabe: Dafür braucht es die Bereitschaft, abseits von Schwarz-Weiß-Kategorien zu denken, sich Sachwissen anzueignen und vor allem einen moralischen Kompass. Das sind zwei gänzlich verschiedene Denkweisen, und deshalb sind militaristische Narrative in ihrer verführerischen Einfachheit so gefährlich.

Überraschende Erkenntnis Nr. 4: Der Krieg dient als Ausrede für alles

Selbst in Ländern wie Litauen, die nicht unmittelbar am Krieg beteiligt sind, dient der Satz „Wir sind eben im Krieg“ als pauschale Ausrede für die Nichtlösung sozialer und wirtschaftlicher Probleme. Steigende Lebensmittelpreise und Energiekosten sowie andere Herausforderungen werden bequem dem Krieg angelastet. Mit dieser Ausrede braucht man sich dann über sinnvolle Lösungen überhaupt keine Gedanken zu machen, sie bleiben ungelöst.

Überraschende Erkenntnis Nr. 5: Polarisierung und Propagandablasen

Wer eine andere Meinung vertritt oder unbequeme Wahrheiten anspricht, wird inzwischen häufig als “Putinversteher” oder gar als “Agent Putins” etikettiert oder beschuldigt, russische Propaganda zu verbreiten. Diese Taktik, mit der sich unbequeme Stimmen leicht zum Schweigen bringen lassen, hat die Polarisierung in unserer Gesellschaft verstärkt und bewirkt, dass die Menschen sich in isolierte Propagandablasen zurückziehen und allen anderen, die nicht der eigenen Blase angehören, misstrauen.

Überraschende Erkenntnis Nr. 6: Krieg als Sinn des Lebens

Manche haben im Krieg eine Gelegenheit gefunden, dem eigenen Leben einen eindeutigen Sinn zu geben. Diese Sinngebung erlaubt es ihnen, sich lediglich auf das reine Überleben zu fokussieren, statt sich mit in der Vergangenheit erlittenen Traumen, Verantwortlichkeiten für die Zukunft oder mit ihrer Rolle in der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Dieser verengte Blickwinkel birgt die Gefahr, das Leben auf Gewaltausübung und schieres Überleben zu reduzieren.

Überraschende Erkenntnis Nr. 7: Der Glaube an die eigene gottgegebene Macht

Die vielleicht schockierendste Erkenntnis von allen ist, dass der Krieg wie eine Droge auf Menschen wirkt, die Macht ausüben wollen. Wie der Terrorismus bietet der Krieg den Kämpfenden die Illusion, absolute Kontrolle über andere ausüben zu können, und den Glauben, sie verfügten über so etwas wie ein gottgegebenes Recht, über Leben und Tod anderer zu entscheiden. Dieses Denken ist zutiefst erschütternd und menschenverachtend.

Gibt es einen Ausweg?

Angesichts dieser traurigen Realität ist klar, dass wir aus diesen Denkfallen ausbrechen müssen, wenn wir eine auf Frieden gründende Zukunft gestalten wollen. Es gibt durchaus machbare Schritte, die wir unmittelbar umsetzen können:

  1. Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren
    Wir müssen diejenigen unterstützen, die es ablehnen, sich am Krieg zu beteiligen, insbesondere Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus Belarus, Russland und der Ukraine. Indem wir sie unterstützen und schützen, schwächen wir die Kriegsmaschinerie.

  2. Einsatz für nukleare Abrüstung in Belarus
    Die Stationierung von Atomwaffen in Belarus gefährdet zunehmend die regionale und globale Sicherheit. Wir müssen unsere Anstrengungen auf den Abzug dieser Waffen und die Eindämmung der nuklearen Aufrüstung in der Region konzentrieren.

  3. Schaffung eines Friedenskorridors entlang des Frontverlaufs
    Insbesondere entlang der Kriegsfronten bedarf es aktiver Friedensmaßnahmen. Mithilfe von Diplomatie, humanitärer Hilfe und basisdemokratischen Initiativen müssen wir Räume schaffen, in denen ein fruchtbarer
    Dialog geführt und Gewalt eingedämmt werden kann.

Im Angesicht des drohenden Atomkriegs: Lasst uns die Friedenbewegung neu erfinden!

Es ist an der Zeit, der Friedensbewegung neues Leben einzuhauchen — wir müssen die Welle des zunehmenden Militarismus brechen, indem wir der Friedensbewegung neuen Schub geben. Diese Bewegung muss die Gewaltnarrative in Frage stellen – mit der transformativen Kraft der Menschenliebe, des gegenseitigen Verständnisses und der Zusammenarbeit. Gemeinsam können wir so einer Welt den Weg bereiten, in der Helden nicht mehr diejenigen sind, die Gewalt ausüben, sondern diejenigen, die sich durch Mitgefühl und das mutige Eintreten für andere auszeichnen.

Der Krieg in der Ukraine beweist, wie schnell der Glaube an universell anerkannte Werte der Menschlichkeit zerbrechen kann. Aber er bietet auch die Chance, eine gerechtere und friedlichere Welt zu schaffen. Lassen wir diese Chance nicht ungenutzt, indem wir unerschütterlich unser Ziel weiterverfolgen: Frieden schaffen ohne Waffen!

Olga Karatch, “Unser Haus”, Belarus

 

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