Das belarusische Netzwerk Nash Dom (Unser Haus) wurde 2002 mit einer gleichnamigen Zeitschrift gegründet. Zwei Jahre später entwickelte sich aus dem losen Netzwerk eine bis heute aktive Menschenrechtsorganisation. Sie gehen durch öffentliche Informationskampagnen gegen Korruption vor und setzen sich gegen die menschenrechtsverletzenden Zustände z.B. in Gefängnissen und Militär ein. Das Netzwerk deckt Missstände in der belarusischen Politik auf und unterstützt Aktivistinnen, wenn diese Opfer von staatlicher Gewalt werden. Die belarusische Menschenrechtsaktivistin Olga Karatsch ist seit 2014 für Nash Dom aktiv. Seit 2020 lebt sie in Litauens Haupstadt Vilnius im Exil. Für die GWR-Leserinnen analysiert sie die aktuellen Entwicklungen in Belarus, die Arbeit der Menschenrechtsaktivistinnen gegen die Lukaschenko-Diktatur und eine mögliche Kriegsbeteiligung der belarusischen Armee in der Ukraine. (GWR-Red.)

Am 9. März 2023 beeilten sich alle Propaganda-Nachrichtenagenturen Alexander Lukaschenkos zu berichten, dass der belarusische Diktator, der bald den 30. Jahrestag seiner blutigen Herrschaft begehen wird, einen Gesetzesentwurf über die Nationale Heimwehr gebilligt und «die Rechtsgrundlage für die freiwillige Beteiligung der Bürger an der Durchsetzung des Kriegsrechts» geschaffen hat. Dies geht aus der Resolution Nr. 2 des Sicherheitsrates hervor, die am 6. März auf dem nationalen juristischen Internetportal veröffentlicht wurde.

Nun muss Verteidigungsminister Viktor Khrenin innerhalb eines Monats Änderungen und Empfehlungen ausarbeiten und diesen Gesetzesentwurf an die verschiedenen Instanzen schicken, bevor er von den zuständigen Stellen endgültig genehmigt wird. Nach Lukaschenkos Plänen soll die Freiwilligenarmee des Volkes 100.000 bis 150.000 Mann umfassen, und es ist vorgesehen, dass in jedem Bezirk «Milizeinheiten» aufgestellt und mit Kampfwaffen ausgerüstet werden.

Es ist klar, dass sich nur bestimmte Kategorien von Bürgern einer solchen Volksfreiwilligenarmee anschließen werden: diejenigen, die für den belarusischen Geheimdienst KGB Denunziationen über ihre Nachbarn wegen ihrer oppositionellen Ansichten schreiben, pensionierte Ordnungskräfte, ehemalige Beamte, Korruptionisten und all diejenigen, die verzweifelt Angst vor Lukaschenkos Abgang haben, weil ihre Missbräuche und Verbrechen, die sie innerhalb des Systems des Diktators begangen haben, möglicherweise aufgedeckt werden.

Am 15. Februar 2023 befasste sich das belarusische Justizministerium mit dem Verfahren zur Vernichtung von Geheimdokumenten und Archiven im Falle eines Krieges oder Kriegszustandes. Zuvor, am 4. Februar 2023, wurde ein gemeinsamer Erlass des Verteidigungsministeriums und des Gesundheitsministeriums veröffentlicht (und trat sofort in Kraft), der die Anweisung zur Festlegung der Anforderungen an die Gesundheit der Bürgerinnen im Zusammenhang mit der Erfüllung des Militärdienstes ändert. Heute werden in der belarusischen Armee junge Männer mit Gesundheitsproblemen wie Übergewicht (Adipositas 2. Grades), Kurzsichtigkeit, Hämorrhoiden ohne Knotenvorfall, leichtem Asthma bronchiale, einigen Formen von Plattfüßen und Fußdeformationen, Erkrankungen des endokrinen Systems, Ernährungsstörungen, Erkrankungen des Herzens und des Nervensystems sowie mit Wirbelsäulen- und Hautkrankheiten eingezogen. Im Allgemeinen kann fast jeder Mann zur Armee einberufen werden.

Die wichtigste Änderung der belarusischen Gesetze fand jedoch am 21. Februar 2023 statt. Lukaschenkos belarusisches Taschenparlament stimmte für harte Strafen bis hin zur Todesstrafe für die «Verletzung von Vorschriften zum Schutz von Staatsgeheimnissen» sowie für die «vorsätzliche illegale Weitergabe von Staatsgeheimnissen mit Geheimnissen der Republik Belarus oder von Geheimnissen ausländischer Staaten, die in die Republik Belarus transferiert wurden, außerhalb ihrer Grenzen». Vereinfacht ausgedrückt, wird die Todesstrafe für Desertion und Fluchtversuche aus der belarusischen Armee verhängt. Jeder Versuch eines Militäroffiziers, mit belarusischen Menschenrechtsorganisationen oder Exilmedien Kontakt aufzunehmen oder ihnen Informationen zu geben, kann ebenfalls mit der Todesstrafe geahndet werden.

Zuvor hatte der Pressedienst des Repräsentantenhauses darauf hingewiesen, dass der Gesetzentwurf «zur Änderung des Strafgesetzbuches» zur «Abschreckung destruktiver Elemente» und zur «Demonstration eines entschlossenen Kampfes gegen Hochverrat» erforderlich sei. Nach dem Verständnis des belarusischen Regimes gehören zu den «destruktiven Elementen» Menschenrechtsverteidigerinnen, Journalistinnen, Aktivistinnen, d.h. alle, die sich für Demokratie und Menschenrechte in Belarus einsetzen.

Als «Hochverrat» im Sinne des neuen Gesetzes gilt die Illoyalität gegenüber Lukaschenko persönlich oder die Weitergabe von Geheimdokumenten, die die Beteiligung des Diktators oder der belarusischen Armee an besonders schweren Verstößen gegen das belarusische Strafgesetzbuch sowie an Verbrechen gegen die Menschlichkeit belegen. In diesem Zusammenhang möchten wir an den Fall von Denis Urad, Hauptmann der belarusischen Streitkräfte, erinnern, der den geheimen Befehl des belarusischen Innenministers an den Verteidigungsminister über die «Beteiligung der Streitkräfte an Strafverfolgungsmaßnahmen» öffentlich gemacht hat, der beweist, dass Lukaschenko die belarusischen Truppen eingesetzt hat, um friedliche Demonstrantinnen während der belarusischen Revolution 2020 zu vertreiben. Der besagte Militäroffizier wurde wegen Hochverrats angeklagt und zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt.

Ebenfalls im vergangenen Jahr wurde in Belarus der Journalist Denis Ivaschin zu 13 Jahren und einem Monat in einer Kolonie verurteilt. Iwaschin wurde der Einmischung in die Tätigkeit von Beamten der Innenbehörde und des Hochverrats beschuldigt. Der Journalist hatte eine journalistische Untersuchung über die Beteiligung ehemaliger Mitarbeiterinnen der ukrainischen Berkut, die ukrainische Zivilistinnen töteten, an der Arbeit der belarusischen Sicherheitskräfte und dem blutigen Vorgehen gegen friedliche Belarusinnen im Jahr 2020 durchgeführt und veröffentlicht.

Seit dem 1. März 2022 führt Unser Haus gemeinsam mit einer Reihe anderer internationaler pazifistischer Organisationen, zunächst mit Connection e.V., dann mit dem Bund für Soziale Verteidigung (BSV), War Resisters’ International (WRI) und anderen, eine Kampagne «Nein heißt Nein» durch, für das Recht der belarusischen Männer, sich nicht an der Verwirklichung von Alexander Lukaschenkos und Wladimir Putins militaristischen Ambitionen zu beteiligen, sowie für das Recht des Einzelnen, nicht zu den Waffen zu greifen. Seit dem Start der Kampagne wurden die verschiedenen Kampagnenmaterialien von mehr als sechs Millionen Nutzerinnen auf den verschiedenen Plattformen von Unser Haus aufgerufen.

Im Laufe des Jahres haben wir einige Gründe zur Freude gesammelt

Lukaschenko fürchtet uns und unseren Erfolg. Vielleicht glaubt er an uns und an den Erfolg unserer Kampagne «Nein heißt Nein» sogar mehr als wir an uns selbst glauben. Daher die repressiven Bemühungen Lukaschenko, die Todesstrafe für Desertion einzuführen und die Militärs mit den schlimmsten Strafen einzuschüchtern, nur weil sie versuchen, Kontakt aufzunehmen.

Dies ist auch der Grund dafür, dass die belarusischen Kriegsdienstverweigerer auf internationaler Ebene als soziale Gruppe erwähnt wurden. Pazifistische Organisationen hörten auf, Belarus «aus den Augen zu verlieren», denn vorher wurden die Probleme der ukrainischen und russischen Kriegsdienstverweigerer gehört, während die Belarusinnen irgendwie vergessen wurden.

Heute können wir bereits sagen, dass die Kampagne nicht nur drei Flügel hat – einen männlichen, einen weiblichen (feministischen) und einen jugendlichen -, sondern dass sie auch beginnt, sich mit wichtigen pazifistischen Themen zu befassen, die früher unsichtbar waren, nämlich:

– Kampf für die Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen belarusische Unternehmen, die Waffen herstellen oder verkaufen, sowie gegen diejenigen belarusischen Unternehmen, die militärische Aufträge des russischen Verteidigungsministeriums ausführen.

– Gruppen, die gesicherte Fakten über die Aktivitäten und Vorbereitungen der belarusischen Armee auf die Teilnahme am Krieg in der Ukraine sammeln.

– Der Kampf gegen die Militarisierung der Jugend und der Kinder in Belarus, einschließlich der Militärschulen und Schulen, sowie gegen die Ausbildung von Kindersoldaten durch das belarusische Verteidigungsministerium.

– Die Situation der Rechte der belarusischen Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, einschließlich der Kampagne zur Abschaffung der Todesstrafe für Desertion in Belarus.

Alle diese Punkte waren der internationalen Gemeinschaft vor unserer Kampagne unbekannt. Wir waren unsichtbar, und das hat es Lukaschenko ermöglicht, in seinen militaristischen Bestrebungen und Träumen so weit vorzudringen.

Die Belarusinnen sind in ihrem Kampf für den Frieden und das Recht auf ein Leben ohne Waffen in den Händen nicht mehr allein. Dies ist vielleicht die größte und wichtigste Errungenschaft dieses Jahres.

Denn Solidarität kann in unserer Welt Wunder bewirken, sie ist viel mächtiger als alle Panzer, Raketen und Bomben.

Olga Karach