Im Nordwesten von Belarus, nur 40 Kilometer von Vilnius entfernt, dominieren zwei massive Kühltürme die Landschaft – das Kernkraftwerk Ostrovets (BelAKW). Oberflächlich betrachtet wird Kernenergie oft als kohlenstoffarme Lösung dargestellt, doch dieses spezifische Kraftwerk wirft ernste Sicherheits- und Umweltbedenken auf. Litauen und internationale Experten haben wiederholt gewarnt, dass das Projekt unter groben Verstoßen gegen Sicherheitsstandards umgesetzt wurde und eine direkte Bedrohung für Menschenleben und die Umwelt darstellt.

Ein gefährlicher Standort

Die Wahl von Ostrovets als Standort für das BelAKW widerspricht grundlegenden nuklearen Sicherheitsrichtlinien. Nach der Fukushima-Katastrophe empfahl die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO), keine Atomkraftwerke innerhalb eines 100-Kilometer-Radius um große Städte zu errichten. Dennoch wurde das BelAKW nur 40 Kilometer von Vilnius, der Hauptstadt eines Nachbarlandes, gebaut. Diese Entscheidung setzt bis zu ein Drittel der litauischen Bevölkerung sowie die Bewohner der belarussischen Region Grodno einem hohen Risiko im Falle eines nuklearen Unfalls aus.

Sollte es zu einem Unfall kommen, könnten Millionen von Menschen in eine potenzielle Sperrzone geraten. Die Folgen wären katastrophal – nicht nur für Belarus, sondern auch für Litauen, Lettland und Polen. Die historische Erinnerung an Tschernobyl zeigt, dass radioaktive Kontamination keine Grenzen kennt. Die internationale Gemeinschaft darf diese Risiken nicht ignorieren.

Eine Geschichte technischer Pannen und Vertuschungen

Von Anfang an war der Bau des BelAKW von technischen Pannen und mangelnder Transparenz geprägt. 2016 fiel ein Reaktordruckbehälter aus vier Metern Höhe – ein kritischer Vorfall, der eine gründliche Untersuchung hätte nach sich ziehen müssen. Stattdessen entschieden sich die belarussischen Behörden zusammen mit Rosatom – dem russischen Staatskonzern, der für das Kraftwerk verantwortlich ist – dazu, das beschädigte Bauteil heimlich auszutauschen, um einer öffentlichen Debatte zu entgehen.

Weitere Vorfälle wie der Einsturz von Bauwerken und Transformator-Explosionen unterstreichen die fragwürdige Sicherheitskultur der Anlage. Trotz wiederholter Forderungen nach Transparenz haben die belarussischen Behörden nicht alle Sicherheitsempfehlungen aus den EU-Stresstests umgesetzt. Die Nachbarländer weigern sich daher, den in Ostrovets erzeugten Strom zu kaufen, da sie ihn als inakzeptables Risiko betrachten.

Umweltrisiken: Wasser und radioaktiver Abfall

Neben den unmittelbaren nuklearen Gefahren stellt das BelAKW erhebliche Umweltbedrohungen dar. Die Anlage nutzt Wasser aus der Neris/Viliya als Kühlung, einem Fluss, der bereits durch Vertiefungsmaßnahmen ökologisch belastet ist. Durch die erhöhte Wassertemperatur aufgrund des Kraftwerksbetriebs könnte das Flussökosystem weiter gestört werden, was Biodiversität und Wasserqualität für die stromabwärts gelegenen Gemeinden gefährdet.

Darüber hinaus produzieren Kernkraftwerke radioaktiven Abfall, der jahrhundertelang gefährlich bleibt. Bisher hat Belarus keinen klaren oder transparenten Plan für die Entsorgung dieses Atommülls vorgelegt. Das wahrscheinlichste Szenario ist die Lagerung abgebrannter Brennelemente vor Ort, was Ostrovets langfristig zu einem radioaktiven Endlager macht. Schon schlecht geführte Routinebetriebe könnten die Region radioaktiven Gefahren aussetzen.

Rechtsverstöße und Forderungen nach Maßnahmen

2019 stellten die Vertragsstaaten der Espoo-Konvention – einem internationalen Abkommen zur Umweltverträglichkeitsprüfung – fest, dass Belarus gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat, indem es Ostrovets ohne ordnungsgemäße Konsultation als Standort auswählte. Dieses Urteil delegitimiert den Bau des Kraftwerks aus rechtlicher Sicht.

Angesichts dieser Verstöße muss die internationale Gemeinschaft entschlossen handeln. Ein Moratorium für den weiteren Ausbau des BelAKW sollte verhängt werden, bis alle Sicherheitsbedenken beseitigt sind. Zusätzliche Reaktoren waren geplant, doch bis eine vollständige Einhaltung der Sicherheitsprotokolle nachgewiesen ist, muss jeglicher Ausbau gestoppt werden.

Das globale Risiko einer regionalen Katastrophe

Kernenergie ist eine Frage nationaler Souveränität, doch wenn ein Reaktor Nachbarländer bedroht, haben diese das Recht einzugreifen. Die Tschernobyl-Katastrophe zeigte, dass radioaktive Kontamination keine Grenzen kennt. Sollte es zu einem Unfall im BelAKW kommen, könnte eine radioaktive Wolke Vilnius, Minsk, Riga, Warschau und darüber hinaus erreichen. Dies ist eine gemeinsame Bedrohung, die eine gemeinsame Lösung erfordert.

Schritte zu mehr Sicherheit und Nachhaltigkeit

  1. Internationale Überwachung: Unabhängige Experten der IAEO, der EU und der belarussischen Zivilgesellschaft müssen permanenten Zugang zum BelAKW erhalten. Transparenz ist der erste Schritt zu Verantwortung.
  2. Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen: Alle EU-Stresstest-Empfehlungen müssen erfüllt werden, einschließlich zusätzlicher Kühlsysteme, technischer Aufrüstungen und hochqualifizierter Schulungen.
  3. Schließung des Kraftwerks in Betracht ziehen: Falls das BelAKW nicht den Sicherheitsstandards entspricht, muss eine Stilllegung ernsthaft diskutiert werden. Litauen hat sein AKW Ignalina im Zuge des EU-Beitritts stillgelegt, um Sicherheit über wirtschaftliche Vorteile zu stellen. Belarus muss ebenfalls Sicherheit über politische und wirtschaftliche Interessen setzen.
  4. Investitionen in erneuerbare Energien: Wahre Energieunabhängigkeit liegt in erneuerbaren Energien wie Solar-, Wind- und Bioenergie. Wären die Milliarden für das BelAKW in Solarparks oder Windkraftprojekte investiert worden, hätte Belarus eine sauberere, sicherere und nachhaltigere Energiezukunft.

Fazit: Wir dürfen das BelAKW nicht ignorieren

Das Ostrovets AKW darf nicht unbeaufsichtigt bleiben. Dies ist nicht nur ein politischer Konflikt, sondern eine moralische Verantwortung gegenüber künftigen Generationen. Eine weitere Nuklearkatastrophe kann sich die Welt nicht leisten – und der Zeitpunkt zu handeln ist jetzt.

Olga Karach,
International Centre for Civil Initiatives „Our House“

 

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