Stellen Sie sich einen Fluss vor, der seit Tausenden von Jahren frei fließt, seine Ufer formt und die umliegenden Wälder und Wiesen nährt. Dieser Fluss – die Neris (Wilija) – ist einer der letzten großen, ungezähmten Flüsse in dieser Region Europas. Ihr Wasserstand und Flussverlauf ändern sich mit den Jahreszeiten: Im Frühling schwillt sie an, im Sommer wird sie schmaler. Ihre Ufer sind von Auwäldern gesäumt, und ihre natürlichen Mäander bieten einzigartige Lebensräume für Vögel und Fische. Wissenschaftler beschreiben die Neris als einzigartig – eine der wenigen großen, noch intakten natürlichen Flüsse in Europa.

Doch heute ist die Neris einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt. Das litauische Verteidigungsministerium plant drastische Eingriffe: Ausbaggern, Vertiefen, Entfernen von Steinen und Begradigung ihrer Mäander – alles mit dem Ziel, den Fluss für Frachtschiffe und, erstaunlicherweise, für militärische Transporte schiffbar zu machen. Noch absurder ist die Begründung: Die Neris könnte im Kriegsfall als Evakuierungsroute nach Russland dienen. Dieser Plan widerspricht nicht nur jeglicher Vernunft, sondern gefährdet auch die Umwelt irreversibel. Wieder einmal wird die Natur den Ambitionen der Militarisierung geopfert.

Ein Naturjuwel in Gefahr

Wissenschaftler der Universität Vilnius und Umweltorganisationen schlagen Alarm. Sie warnen davor, dass diese Eingriffe irreparable Schäden verursachen und gegen die Umweltverpflichtungen Litauens und der Europäischen Union verstoßen würden. Das Ausbaggern und Begradigen eines Flusses zerstört sein empfindliches ökologisches Gleichgewicht. Es verändert die Beschaffenheit der Ufer, beeinflusst die Strömungsgeschwindigkeit, zerstört Überschwemmungsgebiete und verhindert die natürliche Bildung von Mäandern. Kurz gesagt: Der Fluss verliert seinen lebendigen, atmenden Charakter.

Darüber hinaus steht das Neris-Tal unter dem Schutz von Natura 2000, einem EU-weiten Netzwerk von Schutzgebieten, die für die biologische Vielfalt von entscheidender Bedeutung sind. Der Fluss dient als wichtiger Migrationskorridor für Vögel und andere Wildtiere. Ihn in eine militärische Transportroute zu verwandeln, würde dieses empfindliche Ökosystem zerstören und eine einst lebendige, sich selbst erhaltende Flusslandschaft in einen bloßen Entwässerungskanal verwandeln.

Die Empörung über den Missbrauch von Geldern

Besonders besorgniserregend ist die Tatsache, dass Mittel, die eigentlich für den ökologischen Schutz vorgesehen sind, möglicherweise für seine Zerstörung verwendet werden könnten. Berichten zufolge könnten bis zu 20 Millionen Euro aus dem Natura-2000-Programm der EU – das zum Schutz natürlicher Lebensräume dient – stattdessen für die Vertiefung der Neris zweckentfremdet werden. Sollte dies zutreffen, würde Geld, das für den Naturschutz bestimmt ist, dazu genutzt werden, einen frei fließenden Fluss in eine militärische Wasserstraße zu verwandeln.

Der Bürgermeister von Vilnius befürwortet diese Pläne offen und argumentiert, dass eine auf dem Fluss basierende Transportstrecke im Kriegsfall schwerer zu blockieren oder zu zerstören wäre. Doch sollten Flüsse als Kriegsinstrumente betrachtet werden? Sollen wir ökologische Nachhaltigkeit gegen eine fragwürdige Sicherheitsstrategie eintauschen? Diese dringenden Fragen müssen gestellt werden.

Klima und Sicherheit: Ein falsches Dilemma

Die Zerstörung von Flüssen ist eine kurzsichtige Antwort auf Sicherheitsbedenken – insbesondere in Zeiten des Klimawandels. Flüsse wie die Neris sind unsere natürlichen Verbündeten. Sie kühlen die Luft, befeuchten Felder und regulieren die Temperaturen in ihrer Umgebung. Angesichts zunehmender Dürren und Hitzewellen in Europa ist der Erhalt dieser Ökosysteme nicht nur eine Umweltfrage, sondern eine Überlebensfrage für kommende Generationen. Ihre Zerstörung verringert unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber den klimatischen Herausforderungen der Zukunft.

Sicherheit darf nicht auf Kosten der ökologischen Zerstörung gehen. Wahre Resilienz bedeutet, natürliche Ressourcen zu bewahren – nicht, sie für spekulative militärische Strategien zu opfern.

Ein besserer Weg nach vorn

Was können wir tun? Anstatt die Neris in einen Kanal für militärische Nutzung zu verwandeln, müssen wir sie als Naturjuwel bewahren. Wissenschaftler fordern, die Neris aus Infrastrukturprojekten auszuschließen und die Schifffahrt auf kleine, umweltfreundliche Tourismusboote zu beschränken. Dies ist kein Rückschritt, sondern ein Schritt hin zu einer klugen, nachhaltigen Umweltpolitik.

Eine lebendige Neris kann Ökotourismus, wissenschaftliche Forschung und Naturschutzprogramme unterstützen – und gleichzeitig Arbeitsplätze und Bildungsangebote schaffen, ohne ihr ökologisches Gleichgewicht zu gefährden. Anstelle eines militärischen Korridors könnten wir geschützte Naturparks entwickeln, lokale Wirtschaften stärken und ein Vorbild für nachhaltiges Flussmanagement in Europa setzen.

Handeln Sie jetzt!

Wir müssen von der litauischen Regierung und der EU verlangen, diese Pläne zu überdenken. Keine Panzer, keine Frachtschiffe – sondern Fischotter, Reiher und frei fließendes Wasser. Indem wir die Neris in ihrem natürlichen Zustand bewahren, zeigen wir, dass Umweltschutz und Sicherheit keine Gegensätze sind. Sie sind zwei Seiten derselben Medaille – beide entscheidend für eine friedliche, nachhaltige Zukunft.

Den freien Fluss der Neris zu schützen, betrifft nicht nur Litauen – es geht darum, ein internationales Beispiel für gelebte Klimagerechtigkeit zu setzen. Wer die Natur respektiert, schafft eine Kultur des Respekts und der Zusammenarbeit – und legt damit den Grundstein für echten Frieden.

Olga Karach,
Internationales Zentrum für zivile Initiativen „Our House“

 

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